Diese Seiten vermitteln, was Augen vor hundert Jahren in China gesehen, was Ohren dort gehört und was Hände mit Pinsel oder Feder niedergeschrieben haben. Sie halten fest, was chinesische Literati, westliche Abenteurer, Wissenschafter, Diplomaten, Missionare in Peking, Schanghai, Tsingdao... um 1900 erlebten und dachten.
Wenn wir uns ihre Augen leihen und an ihre Gedanken anknüpfen, gewinnen wir neue Perspektiven zur Betrachtung der heutigen Welt. Sie helfen uns auch beim Raten, was uns die Zukunft bringen wird...
Mir hat das Lesen der Berichte, das "Gespräch" mit den Schreibern und Schreiberinnen viel Freude gemacht. Ich hoffe, dass es Ihnen/Euch auch so gehen wird, und lasse nun den Reisenden das Wort.
Richard Wilhelm (Die Seele Chinas, 1926)
Die Mission nimmt in China eine sehr umstrittene Stellung ein. Die meisten der unbeteiligten Fremden in China sind überzeugt, dass die Mission nur schadet, dass nur Heuchler und Geldgierige sich von den fremden Missionen anlocken lassen, dass die Mission ihren Anhängern nur ihre alte Kultur raube und ihnen keine neue dafür gebe, dass daher alle christlichen Hausdiener frech und unbrauchbar seien und die Arbeit der Mission vergebliches Liebesmühen sei. Die Missionare auf der anderen Seite sind stets bereit gewesen, dies alles zu bestreiten, sie bestritten jenen Angreifern zudem das Recht, die Mission, die höhere Zwecke habe, nur als Vorbereitungsanstalt für fremde Diener und Kindermädchen anzusehen. Die Weltreisenden, die über China Werke schreiben, sind in dieser Beziehung übel daran. Je nach der Gesellschaft, in die sie zuerst kommen, werden sich ihre Urteile bilden; denn es ist ja unmöglich, in ein paar Wochen oder Monaten sich ein selbständiges Urteil zu bilden.
vacances-scolaires.com
Da die Missionare außer den Beamten fast die einzigen Fremden waren, die chinesisch sprachen, und zum mindesten mit einem Teil der chinesischen Bevölkerung in näheren Beziehungen standen, so brach sich über die Mission allmählich eine neue Auffassung Bahn. Man sah in ihr vielfach ein Mittel, Kulturpropaganda zu treiben. Besonders in Amerika hat man diese Seite der Sache schon sehr früh erkannt und hat reiche Mittel für die Mission flüssig gemacht. Auch die amerikanischen Großindustriellen und Großkaufleute haben sich vielfach sehr lebhaft für die Mission interessiert und haben durch Vermittlung einzelner Missionare in China auch direkte Geschäftsverbindungen angeknüpft, wiewohl es auf der anderen Seite ungerecht wäre, wollte man die Bedeutung der amerikanischen Mission nur auf dem handelspolitischen oder kulturpropagandistischen Gebiet sehen.
Das Problem der Mission in China ist ein sehr komplexes. Die Mission hat seit den ältesten Zeiten in allen Ländern, in die sie kam, ein doppeltes Gesicht gehabt: ein religiöses und ein kulturelles. Wenn der Apostel Paulus den Entschluss fasste, von Asien nach Europa überzusetzen, um den Griechen und Römern zu helfen, brachte er ihnen keinerlei Kulturanregungen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass er für die griechischrömische Kultur in ihren tiefsten Beziehungen keinen Sinn hatte. Was ihm in Athen auffällt, ist nur der Aberglaube der Leute, und mit Mühe sucht er am Altar des unbekannten Gottes einen Anknüpfungspunkt für seine Botschaft. Was er bringt, ist rein religiös: Die Kunde von dem Christus-Gott, der der Geist ist, der seiner Gläubigen Herzen erfüllen will, das Erleben Gottes als innerliches menschliches Erleben gegenüber der ethnischen Religion, die Gott irgendwo außerhalb sucht. Diese Religion ging dann mit den griechischen Erlösungsmysterien, mit den kleinasiatischen und ägyptischen Heilandslehren, mit römischer Organisation und griechischer Philosophie einen Bund ein und wurde zur christlichen Kirche. Als diese christliche Kirche nach Germanien kam, da trat sie auf im Vollbesitz kultureller Überlegenheit, sie drängte die germanische Kultur zugleich mit ihren Göttern in den Hintergrund und siegte durch ihre zivilisatorische und geistig-wissenschaftliche Überlegenheit. Ganz ebenso wie die Mission in Afrika noch heute auftritt.
In China trat die Mission nicht einer schwächeren oder weniger entwickelten Kultur gegenüber, aber sie beschränkte sich auch nicht wie die urchristliche Mission auf das rein religiöse Gebiet unter selbstverständlicher Voraussetzung eines gemeinsamen Kulturbesitzes; sondern es entspann sich ein doppelter Kampf: einmal versuchte man, den chinesischen »Götzen« gegenüber den wahren Gott zu verkündigen. Man suchte die armen in Sünden verlorenen Seelen zu retten aus dem Pfuhl ihrer Verderbnis und aus der Hölle, die ihrer harrte. Dabei war es nicht zu vermeiden, dass der Missionar alles Andersartige auch für verwerflich ansah. Die gütigen Heiligen und Helfer, die so mancher bedrängten Seele aus ihrer Not geholfen hatten: die große, gütige, auf alles Menschenleid barmherzig herabschauende Personifikation Amidas, die unter dem Namen Guanyin ihre Verehrung fand, der treue, tapfere und edle Schütze Guandi und so viele andere: sie alle wurden nun zu Teufeln gemacht oder als Lehmklöße verhöhnt. Durch viele Predigten wurde die Hölle heiß gemacht, aus der der Glaube an die christliche Dogmatik die armen Seelen dann wieder retten sollte. Dieser Teil der Missionspredigt, an dem sich namentlich von Hause aus ungebildete Missionare gewisser Erweckungssekten nicht genug tun konnten, war freilich der schwerste. Denn in China kennt man Höllen, gegen die alles, was westliche Phantasie an Schrecken sich ausdenken konnte, nur schwaches Getändel war. Nur in Beziehung auf die Ewigkeit freilich ist die christliche Hölle von größerer Bosheit, denn auch die schrecklichsten chinesischen Höllen nehmen doch einmal ein Ende, und eine neue Geburt im Kreislauf des Lebens gibt neue Erlösungsmöglichkeiten.
Eine weitere Schwierigkeit der religiösen Auseinandersetzung erwuchs daraus, dass die Missionare namentlich in früheren Zeiten das Disputieren und Widerlegen heidnischer Irrtümer für eine Hauptaufgabe hielten. So wurden denn mühsam an Konfuzius allerlei Fehler und Sünden und Unvollkommenheiten aufgesucht. Man wollte ihn und seine Lehren ebenso wie die anderen Religionen Chinas diskreditieren. Das Fundament der chinesischen Ethik, die Kindesehrfurcht, wurde angetastet. Das Höchste, was man in China an Pflichten kannte, die Verehrung der Ahnen, wurde als Götzendienst gebrandmarkt. Nicht alle Missionare haben in dieser Richtung gewirkt; aber es lässt sich nicht leugnen, dass namentlich in den ersten Zeiten der evangelischen Mission von Missionaren, die zu Hause in ihrer Heimat oft eine recht niedrige gesellschaftliche Stellung eingenommen hatten, diese Art der Missionspredigt sehr eifrig gepflegt wurde. Je geringer die eigene Bildungshöhe war, desto unbefangener und naiver war die Verachtung aller »heidnischen« Gebräuche.
Es ist kein Wunder, dass durch diese Missionsmethoden viele Konflikte erwuchsen. Der gebildete Teil der chinesischen Bevölkerung empfand diese Predigten als Anmaßung: die Missionare als Gäste auf chinesischem Boden scheuten sich nicht, das Heiligste und Höchste, was der Volksseele teuer war, ohne provoziert worden zu sein, in den Staub zu ziehen. Alles, was höchste Weisheit und Güte der Heiligen der alten Zeit mühsam aufgebaut, sollte mutwillig vernichtet werden. Das war man nicht gewillt zu dulden. Manche Christenverfolgungen sind aus diesem Grund entstanden.
Mancher fromme Missionar hatte in der Einfältigkeit seines Herzens keine Ahnung, wie er der Macht des Evangeliums selbst in den Weg trat, wenn er z. B. auf dem Klappenhorn blasend für chinesische Ohren abscheuliche Musik machte, um die Besucher eines Marktes anzulocken, und ihnen dann in seiner Predigt Rettung anbot, nachdem er alles, was seit Jahrtausenden heilig war, verdammt hatte. Ich erinnere mich noch, wie überrascht ein Missionar war über die satanische Verstockung der Chinesen, als er auf einem Markt, wo er das Klappenhorn in dieser Weise blies, erst Gelächter und Scherzreden zu hören hatte, denen dann noch einzelne Steinwürfe zu folgen drohten, vor denen er mitsamt seinem Klappenhorn über eine Mauer flüchten musste, um die Christenverfolgung nicht, wie er befürchtete, mit seinem Blutvergießen enden zu sehen. Oder was mussten die Chinesen z. B. denken, als eine einzelstehende Missionarin, die im Lauf einiger Wochen kaum ein paar Worte Chinesisch gelernt hatte, auf ihre erste Missionsreise ins Innere ging, allen Männern, denen sie begegnete, auf die Schulter klopfte und sagte: »Gott liebt dich, ich liebe dich auch«. Nur der beispiellosen Wohlerzogenheit der Chinesen, der Reizlosigkeit der Sprecherin und dem verborgenen Schutz, unter dem ein einfältig reines Gemüt steht, war es zu verdanken, dass ihr keine Unannehmlichkeiten widerfuhren. Gerad die wohlmeinenden, begeisterten, einzelstehenden Mission Schwestern, die sich dann freilich, soweit sie einigermaßen jugendlich sind, sehr bald auf dem Missionsfeld mit jüngeren Brüdern zu verheiraten pflegen, sind bei all ihrem guten Willen und wertvollen Liebesdiensten, die sie mit rührender Hingebung leisten, soweit ihnen der Takt fehlt, eine schwere Belastung des Missionsbetriebs in China. Denn es widerspricht dem chinesischen Volksempfinden, dass ein einzelstehendes junges Mädchen öffentlich predigend auftritt. Wo dagegen gebildete junge Damen ihre Wirksamkeit auf die Frauen- und Mädchenwelt beschränken, haben sie stets viel Dankbarkeit und Anhänglichkeit erfahren.
Ein weiteres Missionshemmnis in China ist der große Abstand, der in der Christenheit zwischen Theorie und Praxis klafft. Ein chinesischer Christ erzählt aus seinem Leben eine Geschichte, wie er zum erstenmal mit dem Christentum in Berührung gekommen sei. Ein Missionar habe auf einem Markt vor einer großen Volksmenge über die Gebote der Nächstenliebe gepredigt, dass man die andere Wange hinhalten solle, wenn man einen Schlag auf die eine erhalte, dass man einem auch den Rock lassen solle, wenn einer den Mantel nehme, und dergleichen mehr. Das erinnerte ganz an alte chinesische Heilige, von denen ein Meister zu seinem Schüler sagte: »Was tust du, wenn einer dir ins Gesicht spuckt?« Der Schüler erwiderte: »Ich wische es einfach ab.« Der Meister sprach: »Auch das ist noch nicht genug, denn auch dadurch könntest du weiterhin seinen Zorn vermehren, statt ihn zu besiegen. Lass es trocknen und kümmere dich nicht darum.«
Der Mann wollte nun sehen, ob es dem Missionar wirklich ernst mit seiner Lehre sei. Er trat auf ihn zu und nahm ihm kurz entschlossen den kleinen Tisch weg, den er vor sich stehen hatte. Da sei aber der vorher so sanfte Missionar böse geworden. Während er vorher einen salbungsvollen Ton gehabt, habe er jetzt plötzlich eine ganz natürliche, fast schreiende Stimme bekommen, habe das Tischchen an den Beinen gepackt und sei ihm unter Drohungen mit Anklagen vor Gericht und allen möglichen Beschimpfungen nachgelaufen, ohne das Tischchen fahren zu lassen, bis er sich lachend umgedreht habe: »Da hast du dein Tischchen wieder. Ich wollte es nicht rauben. Ich wollte nur sehen, ob es dir wirklich ernst ist mit deiner Predigt. Ich habe nun gesehen, dass es nur leere Worte waren und begehre nichts weiter.«
Der Mann ist später doch Christ geworden. Aber daraus folgt nicht, dass solche Dinge nicht schaden. So hat der Völkerhass, der sich während des Weltkriegs und danach gerade auch unter den Vertretern des Christentums gezeigt hatte, ungemein stark nicht nur die Neigung, sondern auch die Achtung für die christlichen Völker und ihre Vertreter herabgesetzt.
Denn es war doch so, dass nicht nur englische, sondern selbst amerikanische Missionare, die damals noch nicht in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren, die Predigt des Evangeliums aufgaben und statt dessen Kulis anwarben für die Schlachtfelder in Westeuropa. Der »Culi-trade« (Menschenhandel), wie die Sache ganz offen in der Mission genannt wurde, galt auch bei den übrigen Missionaren durchaus nicht als irgendwie belastend. Er brachte den Beteiligten gute Einnahmen und schien ein gutes Werk zu sein. Selbst als einzelne chinesische Mütter die Seelen ihrer Söhne von den Missionaren zurückforderten, die sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen - dass sie nämlich nicht auf den Kriegsschauplatz kämen und keine Lebensgefahr befürchten müssten - in den Krieg gelockt hatten, und die auf dem westlichen Kriegsschauplatz gefallen waren, wurde das Gewissen dieser Art von Missionaren nicht belastet; denn sie waren vollkommen im Nationalhass untergegangen. Wie harmlos und selbstverständlich diese Missionare sich der Unterstützung des großen Menschenmordes befleißig-1™. geht daraus hervor, dass ein solcher Missionar in Qingdao ei einer deutschen Mission eine Wohnung zu mieten wünschte, um sein Geschäft im Kulihandel besser betreiben können, und höchlich erstaunt war, dass er diese Wohnung nicht bekam, obwohl er doch eine recht gute Summe dafür gezahlt hätte. Durch solchen empörenden Hohn auf ihre Beruf zur Verbreitung christlicher Nächstenliebe haben diese geschäftstüchtigen Missionare der Verbreitung des Christentums in China mehr geschadet als mit vielen Millionen amerikanischen Geldes wieder gut gemacht werden kann. Wie schon im Kapitel über die Räuber erwähnt wurde, haben die Fremden in China inzwischen auch praktische Erfahrungen darüber gemacht, wie rasch dieser Kulihandel seine Früchte trug. All die christentumsfeindlichen Bewegungen in der modernen chinesischen Jugend haben ihren letzten Grund in dieser Lüge.
Doch sehen wir von solchen Auswüchsen ab, da es doch zu allen Zeiten unter allen Nationen auch Missionare gegeben hat, die ihrer Überzeugung entsprechend liebevoll und fromm lebten und wirkten. Freilich finden wir solche Idealgestalten in den früheren Zeiten der Mission häufiger. Damals war die Missionsarbeit noch nicht so sehr mechanisiert wie später. Die Persönlichkeit galt mehr als das System. Da sind unter den deutschen Missionaren Persönlichkeiten wie D. Faber, der die ganze chinesische Literatur durcharbeitete, um eine wirklich gründliche Auseinandersetzung zwischen der chinesischen und der christlichen Weltanschauung zu ermöglichen, wie der Basler Missionar Lechler, der in praktischer Liebesarbeit unter den Hakkas in der Kantonprovinz durch ihre Ansiedlung in Hongkong ganz neue Wege für die Entwicklung dieses Platzes eröffnete, und viele andere, deren Nennung zu weit führen würde. Von der katholischen Mission, ihren Methoden und Erfolgen wird weiter unten die Rede sein.
Auch unter den englischen und amerikanischen Missionaren habe ich manche tüchtige Menschen zu guten Freunden gewonnen. Unter den englischen Baptisten fanden sich Persönlichkeiten wie Dr. Jones, der vollkommen den Chinesen ein Chinese geworden war, wie das Ehepaar Couling, von denen jeder in seiner Art eine lebendige und freie Kraft bedeutete, die aber bezeichnenderweise von der Mission abgestoßen wurden, weil sie in den Betrieb nicht passten. Besonders ragte Timothy Richard hervor, der auf die Ähnlichkeiten zwischen Christentum und Buddhismus den größten Wert legte und durch seine Güte und seine Begeisterungsfähigkeit viele Freunde unter den Chinesen gewann. Unter den amerikanischen Missionaren sind neben einer großen Menge minderwertiger Elemente, die Religion und Geschäftstüchtigkeit in widerlicher Weise verbanden, auch Menschen gewesen wie Dr. Martin, der der erste war, der für den Sinn des chinesischen Ahnendienstes ein gewisses Verständnis zeigte und wegen dieser Ketzerei viel Anfechtungen von seinen orthodoxen Kollegen zu erdulden hatte. Der alte Mateer war das Urbild eines Puritaners vom alten Schlag. Er schuf das erste Lehrbuch der chinesischen Umgangssprache, das die weiteste Verbreitung erlangte und für so manchen jungen Mann das Eingangstor zur chinesischen Sprache wurde. Er war noch von echtem Schrot und Korn und wollte, dass die Verkündigung des Evangeliums frei gehalten werde von aller Verbreitung weltlicher Vorteile. Er duldete nicht, dass in den Missionsschulen unter seiner Leitung fremdsprachlicher Unterricht erteilt wurde, einmal um die christlichen Zöglinge zu bewahren vor den Einflüssen der modernen, freidenkerischen englischen Literatur und dann auch, um sie der Mission zu erhalten. Denn wenn sie nur chinesisch konnten und auch alle westlichen Wissenschaften nur auf chinesisch beherrschten, so blieben sie darauf angewiesen, mit ihren Kenntnissen der Mission zu dienen, und konnten nicht in kaufmännische oder technische Berufe abschwenken. Einen neuen, hochgebildeten Typ repräsentierte Dr. Bergen, der erste Präsident der Jinanfuer christlichen Universität, die alle protestantischen Bekenntnisse einigen wollte und dadurch bis in die neueste Zeit hinein unter der größten Uneinigkeit litt. Denn man kann sich vorstellen, wie schwer es ist, einen englischen hochkirchlichen Bischof mit einem baptistischen Freimissionar unter einen Hut zu bringen. Kam es doch vor, dass ein solcher Bischof, der mit seinem Diener bei einem presbyterianischen Missionar zu Gaste war, lieber mit dem Diener eine Privatandacht auf seinem Zimmer abhielt, als dass er sich oder den Diener befleckt hätte durch die Teilnahme an der gemeinsamen Hausandacht des Presbyterianers.
Durch diese inneren Schwierigkeiten sind auch die ungezählten Millionen, die namentlich von Amerika her in die Universität gesteckt worden sind, doch nicht so recht zur Wirkung gekommen. Man kann überhaupt sagen, wenn die Amerikaner so reich an Verständnis für das chinesische Wesen wären wie an Geldmitteln, würde China vollkommen amerikanisiert worden sein. Aber es fehlt in diesem Stück gar manches. Wohl ließen sie jeden Diener, den sie engagieren wollten, auf dem Sofa Platz nehmen, aber auf der anderen Seite lebten die Missionare oft in ihren recht komfortabel ausgestatteten Häusern ohne eigentliche Fühlung mit ihren Christen. Ich erinnere mich einer großen, christlichen Versammlung in einer Stadt im Innern. Man hatte eine Anzahl von Vorträgen angehört, dann wurde die Versammlung geschlossen mit der Bemerkung, dass man abends getrennte Gebetsversammlungen veranstalten wolle, die einheimischen Christen in der Kapelle, die fremden Missionare im Haus des Präsidenten. Die Abendgesellschaft fand in großer Toilette statt und war sehr heiter: Pfänderspiele wechselten mit der Erzählung lustiger Geschichten, es fehlte nicht an jenem zarten Liebesspiel, durch das die ledigen Damen der Mission sich jüngere Missionare als Gatten zu gewinnen pflegten. Man war lustig und lachte. Die Gesellschaft war ausgelassen, doch war man weit von einer Orgie entfernt. Aber als einer der jüngeren Herren sagte: »Es ist nur gut, dass die Chinesen drüben nicht sehen können, wie wir beten«, da stieg die Heiterkeit auf ihren Gipfel.
In derselben Mission kam es übrigens vor, dass in einer Gebetsversammlung ausländische und einheimische Christen gemeinsam für die Bekehrung eines älteren, wissenschaftlich
und religiös sehr hochstehenden Missionars beteten, der an dem Laster litt, dass er zuweilen eine Pfeife rauchte und auch bei besonderen Anlässen ein wenig Wein für seinen Magen nahm. Das aber galt für schwere sittliche Gefährdung, wie denn in der ganzen Missionspraxis die beiden Gebote: »Du sollst nicht rauchen« und »Du sollst nicht Alkohol trinken« an die Stelle des früheren zehnten Gebotes getreten sind. Das geht so weit, dass man beim Abendmahl, das früher mit chinesischem Reiswein gefeiert wurde, jetzt amerikanischen Traubensaft verwendet. Überhaupt wird die christliche Moral viel mehr in einzelnen kasuistisch bestimmten Handlungen und Unterlassungen gesehen, als in einer großen und starken Gesinnung. So ist z. B. die Vielweiberei ein Grund dafür, dass man nach den Begriffen vieler Missionare der ewigen Seligkeit verlustig geht. Wenn also ein alter Mann in patriarchalischer Weise neben seiner Frau eine oder zwei Dienerinnen hat, die ihm Kinder geboren haben und die mit den übrigen Familienmitgliedern in bestem Einvernehmen stehen, so muss entweder die Familienharmonie zerrissen werden, indem die Mutter der Kinder ihren Eltern zurückgeschickt wird und dort in Schmach und Schande ihr Leben zu Ende führen muss, oder muss der Mann dauernd gewärtig sein, der ewigen Seligkeit verlustig zu gehen, wenn er sich nicht etwa rasch vor seinem Tod noch eine Nottaufe geben lassen kann. Was freilich die Erzväter Abraham und Jakob machen, die doch in derselben Lage waren, ist namentlich deshalb sehr schwer zu sagen, weil das Alte Testament gerade für die Presbyterianer als Gotteswort unbedingt gilt.
Ebenso ist es den Chinesen nur sehr schwer klar zu machen, warum man auf die Gräber der Ahnen zwar Kränze legen darf, aber keinen Weihrauch dabei anzünden, warum die schwarze Trauerfarbe Gott wohlgefälliger ist als der farblose Sack, den die früheren Geschlechter getragen, warum das Reich Gottes eine Demokratie ist, wenn doch Christus herrschen wird - und jedem Durchschnittsamerikaner gilt es ja als Axiom, dass allein die Demokratie eine Gott wohlgefällige Staatsform ist - kurzum, warum die westlichen Sitten unbedingt ein Bestandteil der Religion sein sollen.
Ein weiteres, sehr schweres Missionsproblem ist es, dass man vielfach Zivilisation und Religion vermengt hat. Die Religion hat es letzten Endes nur zu tun mit dem Verhältnis der Seele zu Gott und in zweiter Linie mit dem Verhältnis des Menschen zu seinen Nächsten. Sie hat aber nichts zu schaffen mit Macht und Reichtum, mit Bildung und Besitz, mit Maschinen und Erfindungen. Die Mission hat aber, nachdem die rein religiöse Verkündigung sich nicht als so wirkungsvoll erwiesen hat, wie man erwartet hatte, es nicht vermieden »Fleisch zu ihrem Arm zu machen«, d. h. alle diese Dinge mit in den Kreis ihrer Tätigkeit einzubeziehen. Es wurde als Beweis für die Wahrheit des Christentums verkündet, dass die christlichen Staaten, je christlicher sie seien, desto zivilisierter, mächtiger und reicher seien. Man predigte über das vorzügliche Schulwesen in Europa, über die treffliche Polizei, die Stärke des Landheeres und der Flotten, die Idiotenhäuser und Irrenanstalten, die Reinlichkeit der Straßen, das elektrische Licht und die Maschinen. Kurz, man malte ein paradiesisches Bild der westlichen Verhältnisse als Folge des Christentums. Über die Wohnungsnot und die Großstadtspelunken, das Arbeiterelend und die Gemütsverarmung sprach man in diesem Zusammenhang nicht.
Das alles geschah zum größten Teil im besten Glauben. Man war ganz naiv seiner eigenen Überlegenheit so sicher, dass man auf Schritt und Tritt die Erlösungsbedürftigkeit der armen Heiden erkannte, wenn man sie in ihren ärmlichen Verhältnissen nicht nur nicht unzufrieden, sondern gar voll inneren Friedens sah, wenn man die kleinen Kinder in der Sommerhitze nackt oder mit roten Bauchschürzen sich auf der Straße tummeln sah. Das alles war hauptsächlich vor dem Weltkrieg, der in seinem schreienden Widerspruch zu dem früheren Kulturflötengetön eher ein Hemmnis für die Mission bedeutete. Trotzdem berief ein Missionar der alten Schule auch nach dem Krieg noch eine Versammlung ein mit dem Thema:
»Welche Religion ist am besten geeignet, einen Staat reich und mächtig zu machen?« Er musste sich dabei freilich sagen lassen: »Als unser verehrter Meister Mengzi einst zu dem König Hui von Liang kam, fragte ihn dieser: da Euch tausend Meilen nicht zu weit gewesen sind, um an meinen Hof zu kommen, so habt Ihr sicher einen Rat, der meinem Staate nützen kann. Mengzi aber erwiderte: Nicht also, o König! Wer auf Nutzen aus ist, verdirbt den Staat. Trachtet am ersten nach Liebe und Pflicht, so wird Euch der Nutzen von selber zufallen. Nun sind Sie, Herr Missionar, viele tausend Meilen weit hergekommen, um unserem Reich Ratschläge zu Macht und Reichtum darzubieten. Ist das nicht gerade das Gegenteil von dem, was Mengzi tat, als er vor den König Hui von Liang trat?«
Wenn die Verschiedenheit der kulturellen Umgebungen dem Missionar, je naiver er war, desto mehr ein überhebliches Selbstbewusstsein den Chinesen gegenüber gab, so war er auf der anderen Seite vielfach die Ursache von übel wollenden Verleumdungen der chinesischen Kultur in Europa. Solange die hochgebildeten jesuitischen Missionare in Peking lebten und sich mit der chinesischen Philosophie beschäftigten, stand China in Europa zum beiderseitigen Vorteil im besten Ruf. Seit aber die Mission auf ein niedrigeres Niveau sank und seit andere Fremde nach China kamen, mit anderen Zwecken, kam China auf einmal in schlechte Beleuchtung. Es wurden Lügen verbreitet, dass die Chinesen Regenwürmer und faule Eier äßen, dass sie von unmenschlicher Grausamkeit seien, dass sie die neugeborenen Mädchen schlachten. Man suchte nach Sonderbarkeiten in ihren Sitten: der Zopf, der früher höchstwahrscheinlich von China nach Europa eingeführt wurde, galt als Zeichen der Rückständigkeit. Dass die Frauen ihre Füße schnürten statt der Hüften, galt als entsetzliche Perversität. Dass Missernten und Hungersnöte vorkamen, galt als mangelnde Staatsweisheit. Das Fehlen der Chirurgie galt als schwere Rückständigkeit. Kurz, alles was anders war, war schlecht. Es gibt wohl außer den Deutschen kaum ein Volk in der Welt, das in den letzten Jahrzehnten in der öffentlichen Meinung so verkannt worden wäre wie die Chinesen. Gewiss haben daran die Weltreisenden, die vor allem Seltsamkeiten erzählen wollten und sich auf diesem sensationellen Gebiet die Zügel schießen ließen, einen großen Anteil. Aber auch die Mission hat einen großen Teil von Schuld. Sie brauchte Mittel für ihren Betrieb und musste darum die öffentliche Meinung mobil machen. Seit der Taufbefehl im Matthäusevangelium und das Erbarmen mit den armen Seelen, die der Verdammnis entrissen werden sollen, nicht mehr genügend als Motive der Gebefreudigkeit wirkten, sah sich die Mission genötigt, an das Mitleid mit körperlichen Nöten zu appellieren. Krankheiten und Notstände wurden zu Propagandamitteln gemacht. Die Nacht des Heidentums wurde so schwarz wie möglich gemalt, um die Wichtigkeit der Mission ins rechte Licht treten zu lassen. Das Bedürfnis nach Anekdoten war größer als der verfügbare Vorrat. So scheute man vor Fälschungen nicht zurück. Alles in allem war dann die Wirkung die, dass man China in Europa verachtete mit einem Gemisch von Abscheu und Grauen, obwohl China das gastfreieste Land auf Erden ist, wo es anständigen Fremden so wohl wird wie kaum in einem anderen Land.
Fragen wir nun nach den Erfolgen der Missionstätigkeit. Sie sind verschieden, je nach den Persönlichkeiten und den von ihnen angewandten Methoden. Es ist klar, dass, wenn ein noch so wohlmeinender Mann von beschränktem Gesichtskreis in ein hochkultiviertes Land wie China kommt und damit beginnt, die ganze jahrtausendealte Kultur in Frage zu stellen und als Teufelswerk zu bezeichnen, er keinen Anhang unter den geistig hochstehenden Schichten finden wird. So waren es denn zunächst meist Menschen, die innerhalb des chinesischen Kulturzusammenhangs zu den Ausgestoßenen gehörten, die sich der Mission anschlössen. Die Mission bot finanzielle Vorteile, sie gewährte freie Verpflegung und Unterricht an ihre Zöglinge, oft bekamen die Eltern sogar noch eine Entschädigung, wenn sie ihre Kinder in die Missionsanstalten schickten.
Auf diese Weise lassen sich überall Proselyten machen! Man kaufte kleine Mädchen auf, die von heruntergekommenen Eltern verstoßen waren. Man richtete Findelhäuser ein, in denen die kleinen Mädchen ernährt, gekleidet, erzogen und verheiratet wurden, und bald wurden diese Findelhäuser zu einem beliebten Versorgungsmittel für die Mädchen mittelloser Eltern. Als Prediger und Evangelisten fanden Gelehrte oft zweifelhafter Güte eine wenn auch recht dürftig bezahlte Anstellung. — Diese »Lehrer« bekamen m der Regel geringere Gehälter als ein Koch oder eine Kinderfrau. - Ferner mischte sich die Mission - oft im besten Glauben - in die Prozessangelegenheiten ihrer Konvertiten ein. Diese wussten oft als Christenverfolgungen hinzustellen, was in Wirklichkeit Erpressungsversuche auf ihrer Seite waren. Der Missionar aber benutzte in der Unkenntnis des Tatbestandes seine Stellung als Fremder, hinter dem die Macht der fremden Kanonenboote stand, um die Lokalbeamten zu zwingen, gegen ihr besseres Wissen dem christlichen Teil recht zu geben. Das alles wirkte anziehend auf zweifelhafte Elemente in der Bevölkerung.
Bekannt ist, wie die Gewalttätigkeit des Bischofs Anzer mit ein Anlass wurde zu der sogenannten Boxerbewegung. Sein Nachfolger, Bischof Henninghaus, eine feine und friedliebende Persönlichkeit von echt christlichem Charakter, genießt allgemeine Hochachtung unter den Chinesen, mit denen er in Berührung kommt.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Boxerbewegung wurde die Sache noch schlimmer. Ein schwedischer Baptistenmissionar, früherer Zimmermaler und Matrose, der m einer Seemannskneipe bekehrt worden war, ging umher wie ein brüllender Löwe. Er sammelte Gelder bei allen reichen Leuten der Gegend, die ihm irgendwie als der Begünstigung des Boxertums verdächtig bekannt waren. Weigerten sie sich zu bezahlen, so drohte er mit Denunziation. Auch nahm er alle anrüchigen Prozesse auf und focht sie vor dem Ortsvorsteher durch. Dadurch kam die schwedische Baptistenmission, die unter der milden und vorsichtigen Leitung seines gütigen Vorgängers kaum Erfolge erzielt hatte, zu einer raschen Scheinblüte. Später ist er rückfällig geworden, trank Rotwein und verkaufte Mongolenpferde an die Truppen der Strafexpedition.
Aber nicht nur solche Abenteurer haben oft großes Unrecht an der chinesischen Bevölkerung getan. Ich war Zeuge folgenden Vorfalls. Ein wirklich christlich und vornehm denkender amerikanischer Missionar erzählte mir von einer Christenverfolgung in einem Dorf, das auch mir bekannt war. Ich kannte den Kreisbeamten und erwähnte ihm gegenüber den Fall. Er hatte schon alles genau untersucht, und die Akten waren abgeschlossen. Es handelte sich um den Versuch einiger Ortsangehöriger, ein öffentliches Grundstück privatim mit Beschlag zu belegen, und als sie dabei auf Widerstand trafen, wandten sie sich an die Mission, wurden Christen und suchten den Missionar für den Fall zu interessieren, den sie als einen Raub der nichtchristlichen Bevölkerung darstellten. Der Beamte erklärte sich bereit, dem Missionar Einblick in die Akten zu gewähren. Als ich meinem Freunde diesen Tatbestand mitteilte, war er sehr enttäuscht. Er verhehlte mir nicht, dass er mich für betrogen hielt, und glaubte fest an die Unschuld seiner Christen. Immerhin ließ er sich bewegen, die Sache noch einmal an Ort und Stelle zu untersuchen. Er kam zurück und war empört. »Jeden einzelnen von meinen Christen möchte ich ohrfeigen«, sagte er, »sie haben mich alle hintergangen«. - Das war ein Fall, in dem ein besonders wohlgesinnter Missionar durch ein Zusammentreffen besonders günstiger Umstände aufgeklärt wurde. Wie viele Fälle mögen vorgekommen sein, wo das nicht der Fall war?
Ich selbst wurde einmal im Innern gefragt, wie viel der Eintritt in die evangelische Kirche koste. Als ich den Mann erstaunt fragte, was er meine, sagte er, er sei in Verlegenheit, weil er einen Prozess hängen habe, und müsse in eine Kirche eintreten; er sei sich aber noch nicht klar, ob er in die Jesu jiao (evangelische Kirche) oder die Tianzhu jiao (Himmelsherrn-Kirche - katholische Kirche) oder die Tielujiao (Eisenbahn Kirche) eintreten wolle. Er werde wohl die Eisenbahnkirche vorziehen, sie sei zwar etwas teurer als die anderen, aber auf der anderen Seite gehe sie auch viel rücksichtsloser vor (damals wurde in Shandong die Eisenbahn von Qingdao nach Jinanfu gebaut). Das zeigt die Gesinnung jener Kreise.
Natürlich kam auf diese Weise weder das chinesische Volk noch die Mission zur Ruhe. Es war ein Circulus vitiosus. Der Missionar bedrängte den Beamten zugunsten seiner Christen und drohte mit Kanonenbooten oder sonstigen diplomatischen Eingriffen. Der Beamte gab nach und drückte auf die Bevölkerung, dass die Christen recht behielten. Die Bevölkerung endlich brach, wenn sich die Misshandlungen gehäuft hatten, in irgendeinem lokalen Aufstand los, brannte die Missionsstationen nieder und schlug wohl auch einen Missionar tot. Dann griffen die fremden Mächte ein, entsandten Kanonenboote, führten Sanktionen durch - die Besetzung Qingdaos war z. B. eine solche Sanktion -, und die Dinge begannen wieder von vorne.
Gewiss waren nicht immer die Christen die allein Schuldigen. Aber das ganze System war zu verurteilen. Der Apostel Paulus wurde geprügelt, eingesperrt, gesteinigt, ohne dass irgendeine Macht ihn gerächt hätte. Aber indem die Mission weltlichen Schutz verlangte und oft mehr davon erhielt, als sie verlangt hatte, kam die ganze Frage in falsches Fahrwasser. Wenn man noch dazu bedenkt, dass die Missionare infolge einer Fälschung des Zhifu-Abkommens zwischen Frankreich und China, die nachher von allen übrigen Mächten ebenfalls als zu Recht bestehend für ihre Staatangehörigen beansprucht wurde, das Recht erlangt hatten, überall in China sich niederzulassen, Eigentum zu erwerben und ihre Tätigkeit zu entfalten, so versteht man noch besser den tiefgehenden Unwillen des chinesischen Volkes gegen die Mission, der sich gegenwärtig in den antireligiösen Demonstrationen Luft macht.
Besonders gefährlich wurde die Lage, als um die Wende des Jahrhunderts der Amerikaner Mott auf den abstrusen Gedanken kam, dass die Welt im Lauf dieser Generation evangelisiert werden müsse. In der chinesischen Mission der Amerikaner und Engländer wirkte dieser Gedanke ansteckend. Die Jahrhundertfeier evangelischer Mission stand bevor. Man wollte sie damit begehen, dass die Zahl der fremden Missionare verdoppelt würde. Gebetsversammlungen drängten einander. Man' verbreitete die Parole, dass ein junger Mann zu Hause sich nicht mehr fragen dürfe, ob er einen Beruf zur Mission habe, sondern ob er einen triftigen Grund habe, in der Heimat bleiben zu dürfen. Der liebe Gott wurde mit Massenversammlungen förmlich bedroht, diese Verdoppelung des Missionsstabs durchzuführen. Er hat es nicht getan. Als die Jahrhundertfeier herankam, war trotz all der fanatischen Gebetsorgien die Zahl der Missionare weit davon entfernt, sich verdoppelt zu haben. Nun aber kam die große Lüge. Man hätte sich darüber besinnen müssen, warum Gott diese Gebete nicht erhörte, und vielleicht hätte die so erworbene Erkenntnis zur Vernunft geführt. Aber weit gefehlt! Man ließ die Frage einfach fallen, und obgleich man sozusagen den ganzen Glauben von der Gewährung der Bitte abhängig gemacht hatte, tat man jetzt gar nicht mehr, als ob je so etwas versucht worden wäre. Natürlich fuhr man fort,) weiterhin in Zahlenrausch und Organisation zu schwelgen, und die Statistik hat nirgends verwüstender auf die heimischen Kreise gewirkt als in der Mission. Was da alles unter dem Titel »Christ« mitgeführt wurde, geht wirklich sehr weit. Und es kamen durch diesen Massenbetrieb eine Menge von ungeeigneten Elementen als Missionare nach China, denen der heilige Ernst der früheren Generationen vollkommen fehlte, die die Mission und die häufig damit verbundene kaufmännische Agentur als ein Geschäft ansahen wie andere mehr und die ihre Zeit mit Versammlungen, Ferienaufenthalten und Komiteesitzungen verbrachten. Auf einer Konferenz wurde einmal zur allgemeinen Erheiterung festgestellt, dass ein Missionar, der gewissenhaft alle derartigen Versammlungen mitmachen wollte, höchstens noch einen Monat für seine eigentliche Missionstätigkeit Zeit habe. So war es denn kein Wunder, dass ein großer Teil der Missionare bei Ausbruch des Krieges zu Agenten des Kulihandels wurde.
Dass die deutsche Mission schon aus Geldmangel sich an diesem Treiben nicht beteiligte, sei ausdrücklich hervorgehoben. Ebenso darf man nicht vergessen, dass außer diesem ungeeigneten Menschenmaterial zu allen Zeiten auch gebildete und edle Menschen in der Arbeit standen. Besonders hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die Tätigkeit der verschiedenen amerikanischen, englischen und schwedischen Universitätsmissionen. Hier wurde in freiem und verständnisvollem Geist wertvolle, christliche Unterrichts- und Erziehungsarbeit geleistet, wie denn überhaupt namentlich seit der Revolution in China, die das Christentum zur vollberechtigten Religion machte, die Missstände der Kanonenbootpolitik zurücktraten und an die Stelle einer mechanischen Predigertätigkeit immer mehr eine intelligente Schultätigkeit trat, die durch Hospitaltätigkeit unterstützt und ergänzt wurde.
Ebenso wäre es ein Unrecht, wenn man von den chinesischen Christen behaupten wollte, dass nur minderwertige Elemente aus unsachlichen Motiven sich dem Christentum zugewandt haben. Im Gegenteil, es finden sich unter den Christen auch eine große Zahl von tief religiös veranlagten Persönlichkeiten, die sich der Lehre Christi anschlössen und sie zu verwirklichen suchen in ihrem Leben: Angehörige früherer Geheimsekten, die nach Erlangung des ewigen Lebens suchten, mündeten in die christliche Kirche ein. Junge, westlich gebildete Leute nahmen mit der westlichen Kultur zusammen auch die Religion an, die ihre Grundlage bildet. So findet sich heute in China eine einheimische christliche Gemeinschaft, die im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle spielt, der nicht nur Sun Yat Sen und Feng Yuxiang, sondern auch andere bedeutende Führer Jung-Chinas angehören. Aber ähnlich wie Sundar Singh in Indien zwar Christ ist, aber sich über den europäischen Abfall vom wahren Christentum entsetzt, so macht sich auch die einheimische chinesische Kirche von den falschen Einflüssen der Mission immer mehr frei. Sie sorgt für ihre finanzielle Selbständigkeit und hat z. B. während des Krieges sich ganz überwiegend von der Verhetzung durch die Missionare freigehalten. Es ist mir wiederholt ausgesprochen worden, dass die chinesischen Christen Evangelium hören wollen und keine nationale Propaganda für eine der in Europa kämpfenden Parteien. So hat man in der chinesischen Kirche den Krieg zum großen Teil als einen schweren Abfall von den Prinzipien des wahren Christentums empfunden.
Hand in Hand mit der Verselbständigung gegenüber den fremden Missionsgesellschaften geht ein engerer Anschluss an die Volksgenossen. Die chinesische Kirche ist heute nicht mehr eine Körperschaft, die dem chinesischen Volk in seiner Mehrheit fremd und feindlich gegenüber steht, sondern sie beteiligt sich aktiv und produktiv am allgemeinen Leben. Ebenso schließen sich Christen gegenseitig aneinander an. Das Christentum wurde nach China gebracht in einer Unzahl von verschiedenen Sekten und Denominationen, die sich untereinander bekämpften und verketzerten. Was sind unter den Missionaren für Kämpfe geführt worden über die richtige Übersetzung des Ausdrucks »Gott«, über verschiedene kirchliche Sitten und Gebräuche! Die Wut, die die Kämpfer beseelte und entzweite, stand in nichts hinter der heimischen Rabbis Theologorum zurück. Aber diese Differenzen interessierten die Chinesen weniger. Man sah auf das Gemeinsame, man duldete gegenseitig das Besondere; manches Trennende, das in Europa als historische East mitgeschleppt wird, verflüchtigte sich: so kam man zu einer einheitlichen chinesischen Kirche, die über die Unterschiede der Missionare kühn hinweg geht. Auch zwischen Protestanten und Katholiken überwindet das Gefühl der Gemeinsamkeit christlichen Glaubens die trennenden Momente. -
Im bisherigen wurde versucht, möglichst objektiv die Tatsachen der Missionstätigkeit, soweit sie für mich Erlebnis geworden sind, zur Darstellung zu bringen, wobei nach der Lage der Dinge vorwiegend die evangelische Mission sich in meinem Gesichtskreise befand. Es erübrigt nun noch die Frage nach der Berechtigung der Mission und ihre Beurteilung vom letzten kulturgeschichtlichen Standpunkt aus.
Die Mission ist eine Erscheinung, die in der modernen Zeit die Bedeutung hat, die im Mittelalter den Kreuzzügen zukam. Die Kreuzzüge wurden unternommen in der Überzeugung: »Gott will es!« Wir stehen heute der Frage anders gegenüber als die begeisterten Kreuzfahrer des Mittelalters. Aber wir verstehen die Kreuzzüge als eine historische Tatsache, als ein Überschäumen des expansiven Dranges einer aufsteigenden Kultur. Wir wissen, dass ihre Folgen ganz andere wurden, als beabsichtigt war. Das heilige Eand wurde nicht christlicher Dauerbesitz, der Islam wurde nicht vernichtet, das türkische Weltreich nicht zerstört. Insofern waren also die Kreuzzüge nicht gottgewollt. Aber dennoch hatten sie bedeutende Wirkungen. Das Hochkommen der Gotik, dieser höchsten und reifsten Leistung der mittelalterlichen Kultur wäre nicht möglich gewesen, ohne die Befruchtung westlichen Geistes durch die Auseinandersetzung mit dem Orient, durch die Erlebnisse neuer Eindrücke fernen Weltendrangs. Auch auf den Islam wurde ein mächtiger Einfluss ausgeübt. So sehen wir in den Kreuzzügen eine historische Notwendigkeit, entsprungen aus dem tiefen Unterbewusstsein der mittelalterlich europäischen Seele, die eine neue Befruchtung brauchte, um das Höchste zu gebären, dessen sie fähig war.
Genau so verhält es sich mit der Mission. Auch die Mission wurde unternommen in der Überzeugung: »Gott will es!« Aber wie die Kreuzzüge in Palästina, so kam auch die Mission in China an einen toten Punkt, insofern, als nicht anzunehmen ist, dass China jemals als Ganzes einer christlichen Kirche angehören wird. Die kirchliche Ausprägung der Lehre Jesu hat eben nur eine beschränkte Stoßkraft. Es gibt andere Formen wie das Judentum, den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus, den Konfuzianismus, denen gegenüber ihre Kraft als kirchliche Institution nicht ausreicht, während die Lebensmächte und großen Gedanken, die sich in Jesus gezeigt haben, viel weiter wirken als die Kirchen, die heute seinen Namen tragen.
Wie bei den Kreuzzügen floss auch durch die Mission ungewollt eine Menge wertvoller Kulturanregungen nach Europa zurück, wenigstens solange die Mission von geistvollen Menschen betrieben wurde. Die jesuitischen Väter, die zur Zeit des Barocks nach China kamen, waren zum größten Teil Männer großen Formats. Sie wirkten nicht durch die Menge, sondern durch die Qualität der Persönlichkeit. Ihre Namen sind heute noch in China alle bekannt. Sie brachten nicht nur Missionspredigten, sondern die Höhe europäischer Wissenschaft in Mathematik und Astronomie. Sie haben den chinesischen Kalender wieder in Ordnung gebracht, und die astronomische Theorie von Tycho de Brahe, die sie verbreiteten, ist in China für lange Zeit die Grundlage der astronomischen Berechnungen und Anschauungen geblieben. Sie brachten die Früchte europäischer Kunst und Technik. Sie bauten dem Kaiser Schlösser, malten ihm Bilder, gössen ihm Kanonen, ließen seine Taten in Kupferstichen verewigen, kurz, brachten die damalige Kulturform Europas nach China, eine Menge von chinesischen Persönlichkeiten reichten ihnen die Hand, und China empfing wertvolle Anregungen auf kulturellem Gebiet. Schon war der letzte Kaiser der Mingdynastie Christ geworden, schon war auch der Kaiser der Mandschus, der unter der Devise Kangxi regierte, dem Christentum sehr günstig gesinnt. Wenig fehlte, dass China katholisch geworden wäre. Auch Europa wurde von der chinesischen Kultur beeinflusst. Das ausgehende Barock, das Rokoko, die Aufklärung ist nicht nur durch chinesische Kunstmotive in der Architektur und im Gartenbau, in der Kleinkunst (Porzellan) und Zimmerausstattung, sondern auch in Philosophie und Moral von China stark beeinflusst. Die Jesuiten machten große Teile der chinesischen Literatur durch Übersetzungen zugänglich. Kein geringerer als Leibniz sah die ungeheuren Möglichkeiten, die sich aus einer gegenseitigen Befruchtung Chinas und Europas ergeben würden. Die Physiokraten, die Begründer der Volkswirtschaftslehre, entnahmen ihre wesentlichen Gedanken den Anregungen, die von China herüberkamen. Es war ein reiches Leben, das aus dieser Berührung zweier verschiedenartiger, aber gleichwertiger Kulturen sich zu entwickeln begann.
Die Bewegung wurde damals unterbrochen. Die Jesuiten wurden in ihrer Tätigkeit gestört durch andere Orden, die ihnen folgten und die ihren Weitblick nicht hatten. Streitigkeiten über die Bezeichnung Gottes, über die Bedeutung des Ahnendienstes, über die Methoden der Bekehrung entstanden. Europa mischte sich ein. Die chinesischen Herrscher wandten sich ab. Eine Christenverfolgung entstand, die das ganze Werk vernichtete.
Nun kamen andere Zeiten. Nicht mehr Weisheit und Religion, Kultur und Wissenschaft waren die Schätze, die Europa brachte und mitnahm in fruchtbarem Austausch, sondern man suchte Geld und brachte Waren. Es kam die Zeit des Opiumkriegs, durch den man China gegen seinen Willen europäische Waren aufzwang. Auf den englischen Opiumschiffen sind dann auch die ersten protestantischen Missionare nach China gekommen. Nun folgen lange Jahrzehnte gegenseitiger, traurigster Missverständnisse. Statt des weiten und freien Geistes der Jesuitenväter kam ein gewaltsamer, enger Geist der materiellen Expansion und kirchlichen Bekehrungseifers. Europa kämpfte mit Kanonen. China suchte sich verzweifelt abzuschließen, aufs tiefste gekränkt durch die rücksichtslose Verletzung alles dessen, was durch die Jahrtausende heilig gewesen war. Schritt für Schritt wurde es durch brutale Gewalt zum Nachgeben gezwungen, auch dazu gezwungen, der Mission immer wieder neue Konzessionen zu machen. So entstand die chinesische Fremdenfeindlichkeit und Ablehnung dessen, was die Eindringlinge als Weltanschauung brachten; denn nach chinesischer Auffassung konnte eine Religion, die solche Früchte der Vergewaltigung zeitigte, unmöglich gut sein. So entstand auch das verzerrte Bild von dem erstarrten, unbeweglichen, Regenwürmer essenden China, das eine Mischung von grotesker Albernheit und perverser Grausamkeit darstellt. An diesem Bild hat die Mission getreulich mitgearbeitet. Die Gründe wurden oben schon gezeigt.
Man muss sich wundern, wie unproduktiv die spätere Mission auf dem Gebiete der Kulturübertragung lange war im Vergleich mit den reichen Wirkungen der alten, katholischen Zeit. Das hängt wohl zum großen Teil mit dem geringeren Bildungsstand der Missionare zusammen, die Kulturwerte gar nicht sahen, wenn sie nicht die gewohnten äußeren Formen zeigten. Es hing ferner damit zusammen, dass die von außen eingedrungenen Missionare zunächst nur mit ungebildeten Teilen des chinesischen Volkes in Berührung kamen, während die mit Ehren empfangenen jesuitischen Väter am Kaiserhof die denkbar beste Gesellschaft von Gelehrten und Künstlern fanden.
Aber wo zwei Kulturen aufeinanderstoßen, da lässt sich auf die Dauer eine geistige Auseinandersetzung nicht vermeiden. Diese Auseinandersetzung hat heute begonnen. Die chinesische Geschichte zeigt in ihrer Entwicklung stets das Bild, dass die in sich ruhende, hochstehende chinesische Kulturwelt von umliegenden Barbaren oder eindringenden Missionaren gestört, beeinflusst und zu neuer Blüte angeregt wurde. Solche Kulturehen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, waren stets der Grund für Neugeburt innerhalb des chinesischen Geistes, der dann die Eindringlinge assimilierte und sich angliederte. So ist die alte Kultur der Zhou-Zeit zurückzuführen auf das Einbrechen patriarchalischer Weststämme in das Gebiet noch vorwiegend patriarchalischen Chinesentums. Diese Verbindung schuf die Grundlagen für alle späteren Zeiten und fand ihre Ausprägung im Konfuzianismus und Taoismus. Die Auseinandersetzung der nordchinesischen Kultur am Huanghe mit der südlichen autochthonen Kultur am Yangtse schuf eine neue, unerhörte Blüte im fünften bis dritten vorchristlichen Jahrhundert. Dann kam der Buddhismus, der lange Zeit die besten Köpfe beschäftigte, bis er assimiliert war und die Feinheit und Schönheit der Tang und Sungzeit als Endergebnis zeitigte. Der Mongoleneinbruch schuf die Mingkultur; die jesuitische Anregung verbunden mit der des Nordstamms der Mandschus, der die Herrschaft errungen hatte, wurde verarbeitet zu der in Europa leider noch viel zu wenig bekannten Kultur der letzten drei Jahrhunderte in China, die ganz deutliche und selbständige Züge zeigt und keineswegs eine bloße Erstarrungs- und Verfallserscheinung ist, wie das m europäischen Lehrbüchern bis zum Überdruss einer gänzlichen Abwesenheit von Sachkenntnis immer wiederholt wird.
Nun kommt die Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident. Diese Auseinandersetzung ist vielleicht die letzte und wichtigste, die die Weltgeschichte bisher geboten hat, eine Synthese nicht nur zweier polar entgegengesetzter Kulturräume, sondern vielleicht auch zweier Menschheitszeiten. Was diese Auseinandersetzung für den Osten und für den Westen bringen wird, können wir zur Zeit noch nicht übersehen. Aber dass es etwas ganz Großes werden wird, ergibt sich schon aus der Spannweite der Gegensätze, die durch die Synthese in Ergänzungen umgewandelt werden sollen.